CD-REVIEW
DIE TOTEN HOSEN
„Learning English Lesson 3: Mersey Beat – The Sound Of Liverpool“
JKP/Warner
Neben den üblichen Aktivitäten in Form von Studioalben und endlosen Live-Tourneen sind die Toten Hosen seit Jahrzehnten an verschiedenen Fronten unterwegs. Mal unplugged, mal mit Orchester, dann mal ganz geheim, sogar im Wohnzimmer oder man präsentiert sogar „entartete Musik“. Und wir erinnern uns auch gern an die Roten Hosen oder an ihre kleinen Lehrstunden, wo man sich den Anfängen des Punk widmet. Vielfalt lautet die Devise, weil es ihnen in erster Linie Spaß bereitet … und weil sie es auch können! Ein ganz wichtiger Punkt! Natürlich ist nicht immer alles Gold, was glänzt, erinnere mich nur an die so hochgelobte Tour-Doku, die sogar in den Kinos lief … furchtbar! Oder als ich vor so fünf Jahren meinem Schnuppel die aktuelle CD „Entartete Musik“ zu Weihnachten schenkte. Riesenfreude nach dem Auspacken, weil sie auch die Hosen toll findet. ein Durchlauf hat es gegeben – sie grummelt auch heute noch – seitdem verstaubt das Teil im Regal. Alles halt Geschmacksache, man(n) kann es nicht allen recht machen.
Anscheinend von Campinos Buch „Hope Street: Wie ich einmal englischer Meister wurde“ – was mir leider nicht vorliegt – angefixt, widmet sich der komplette Hosenclan völlig überraschend dem Mersey Beat. Einen Tag bevor ich davon erfahren habe, tat ich übrigens das Gleiche, weil ich mich darüber informieren wollte, da mein Interviewpartner Cliff Williams von AC/DC in Liverpool mit dem Sound aufgewachsen ist und total darauf abfährt und ihm frönte. Ein eigenwilliger Beat-Sound, der von den Musikern für die Jugendlichen, die vorwiegend aus der Arbeiterklasse stammten, kreiert wurde und in dieser Form nur aus der heutigen Klopp-Stadt stammt. Wobei es sich dabei noch nicht mal um Eigenkompositionen handeln musste, auch amerikanische Songs wurden quasi verwurstet, die dann wieder in die USA exportiert wurden und dort zu richtigen Hits mutierten. Bekannteste Akteure Anfang der 60er sind die Searchers, Gerry & The Pacemakers … und natürlich Paul, John, Ringo und George!
Man sollte sich mal in diese Zeit versetzen, denn ein Überangebot an Freizeitaktivitäten für Kids, Teenies und „Halbstarke“ aus der Arbeiterklasse hat es in dieser Zeit nicht gegeben. Außer der Musik vielleicht noch Fußball, aber man will ja auch Mädels kennenlernen, deshalb standen sogenannte „Tanzpaläste“ hoch im Kurs, wo man sich austoben konnte. Und das war mit Sicherheit den Obrigkeiten und der älteren Generation nicht geheuer, insofern war das schon ein Revoluzzer-Sound und richtig subversiv wie damals der Urknall des Rock ‚n‘ Roll kurz vorher. Heute mag man darüber schmunzeln, genau wie etwa über die Sex Pistols, aber man muss das immer im Kontext der Zeit betrachten.
Wenden wir uns mal den Interpretationen von Campino & Co. zu, wobei ich auch zugeben muss, dass mir sehr viele Nummern total unbekannt waren, nur bei fünf oder sechs Stücken hat es bei mir geklingelt. Macht aber nichts, denn ein besonderer Reiz besteht auch darin, die Songs mal im Original zu googeln und dann Vergleiche zu ziehen. Und dabei komme ich zum Ergebnis, dass die Hosen zwar ungewöhnlich zahm vorgehen, die Songs nicht hosenmäßig richtig „verschandeln“, sondern sie eher mit Respekt und Würde (und wohl jeder Menge Spaß) eingespielt haben. Und das finde ich toll! Es sind ja richtige Klassiker und viele echte Perlen dabei, da geht es nicht darum, sie zu toppen, eher mit einem frischen Sound in die Neuzeit aufzupoppen und sie ins Jahr 2020 zu transportieren. Und dieses Experiment ist ihnen absolut gelungen, zumindest sehe ich das so, der auch ein Faible für die 60er Jahre vorweisen kann. Gleich der Opener „Hippy Hippy Shake“ (The Swinging Blue Jeans … was für ein Name!!!) verbreitet bei mir gute Laune, zu „Respactable“ gibt es ein passendes und sehr cooles Video. „Do You Love Me“ und „You’re No Good“, die ich immerhin beide sogar kannte, würde ich als kleine Rohdiamanten bezeichnen. „Slow Down“ von den Beatles kommt cool rüber, „noch besser gefällt mir allerdings „You Might As Well Forget Him (Tommy Quickly And The Remo Four … gänzlich unbekannt für mich). „Shake Sherry“ (Faron’s Flamingos … wer kennt die denn???) spiegelt den Spirit dieser Zeit wider, genau wie „Shake, Rattle And Roll“ (die erwähnten „Jeans“ zum zweiten Mal), während „Needles And Pins“ wohl das bekannteste Stück sein dürfte. Vor Urzeiten schon bei den Searchers ein Hit, in den 70ern von Smokey weltweit reanimiert und fast unerreicht, so dass auch da die Hosen nicht ganz rankommen. Aber was soll’s! Ihre Fassung finde ich um einiges besser als die von den Ramones! Ist doch was! Ihr seht, die Scheibe finde ich echt gelungen, so auch der Ausklang mit „Ferry Cross The Mersey“. In letzter Zeit bin ich bei reinen Coveralben kritisch unterwegs gewesen, so bei Ace Frehley oder ein bisschen bei Fiddler’s Green, weil mir das zu vorhersehbar ausgefallen ist. Hier bin ich richtig überrascht, denn damit hätte ich nicht gerechnet! Wäre ungefähr so, als würden sich Rammstein Chansons aus den 20er Jahren vorknöpfen, was mit Sicherheit auch interessant wäre.
Bei der großen Hosen-Anhängerschaft heißt es sogar schnell zuschlagen, denn das Teil ist auf 20000 limitiert und sogar durchnummeriert und eignet sich für richtige Oldies auch als perfektes Weihnachtsgeschenk! Und nein, Schnuppel wird es nicht auspacken dürfen, die 60er und mit ein paar Ausnahmen auch die 70er sind nicht ihr Ding … ich habe es 30 Jahre lang versucht! 🙂
P.S.: Seit zig Jahren gibt es ja so etwas wie Discos, wo vernünftige Mucke, egal ob guter Pop, Rock oder Metal, gespielt wird, überhaupt nicht mehr, vermisse das sehr! Würde es so „Tanzpaläste“ wie damals geben mit der Musik von einst, ich wäre mit Sicherheit dort Stammgast.
Und eine Kleinigkeit ärgert mich ein wenig! Da haben sich die Hosen schon einige Male die Bühne mit AC/DC geteilt und kommen nicht auf die Idee, den Mersey Beat-Experten Cliff Williams für ihre Sessions einzuladen. Ein Frevel für mich, denn ich denke, er wäre mit Begeisterung sogar dabei gewesen!
Text: Chris Glaub